Von Simone Scharbert
sort of a mosaic, dein denken, dein lenken, kein einlenken, im gegenteil,
stein auf stein, anstein, der anstoß, ein fensterwurf: 48 an der zahl,
du wirfst, du hämmerst, each of us puts in, von draußen nach drinnen,
von smashing women ist zu lesen, und wie ihr zu suffragetten werdet,
von suffer to suffrage, aus neid wird leid, ein arrest folgt dem andern,
in holloway, der erste, london 1909, das muss man sich mal vorstellen:
anstatt frauen recht frauen anstalt, und du, ja du, verweigerst arbeit
und kleidung, bleibst im bett, arrest, rest in bed, verweigerst essen,
dein körper ein rest, von suffer to suffrage, dein zustand jetzt: wrappend
in blankets, von zelle zu zelle, geschoben, du, to be fed in bed, schläuche,
geschoben in bäuche, vom mund tief in den grund, an deiner seite
frauen, die dich halten, fest schnüren, fest binden, dreißig tage, noch
hast du keine wahl, hast kein recht, wartest still, silent, die frage:
mr president, how long must we wait?
ALICE PAUL (1852-1934)
Der vorliegende Text ist Teil des Zyklus "Gesänge vom Nein" der Autorin Simone Scharbert und erinnert an Alice Paul, eine der ersten Suffragetten. Darin sammelt die Autorin unterschiedlichste "Alice"-Biografien, das heißt Geschichten von Frauen, die auf ihre Art und Weise gesellschaftliche Normen und Grenzen überschritten haben, sei es politisch oder künstlerisch, und oft in Vergessenheit geraten sind. Simone Scharbert ist 1974 in Aichach geboren, hat Politikwissenschaft, Philosophie und Literatur in München, Augsburg und Wien studiert, und anschließend in Politikwissenschaft promoviert. Sie lebt und arbeitet als freie Autorin und Dozentin in Erftstadt. 2017 ist ihr Lyrikdebüt Erzähl mir vom Atmen bei Raniser Debüt erschienen.
Von Audrey Liebot
übersetzt von Barbara Peveling
schenkel, stoff
simon sein schenkel so mir nichts dir nichts in seiner dreckigen jeans unter seinen warmen
fingern händen handgelenken unterarmen machen lust jungs zu
lieben seine schultern, einen eiffelturm auf der brust
klebend
sag ich, na
aber ich will gar nicht von simons schenkel reden
du rauchst auf dem waschbecken sitzend und fragst ob du’s darfst
ich betrachte dich vom bett aus
das licht blendet mich
deine schenkel übereinandergeschlagen
sie mit ganzen händen greifen
wenn du dich auf mich setzt
den daumen bis zur leiste hochschieben
wo die haut
zart
ist
du hast sie tätowiert
nicht schlecht
deine starken schenkel
und der seifengeruch in deinen haaren
und wenn ich dran denk
mit halbgeöffneten lippen
und bauchweh
und zusammengekniffenen augen
seh ich
grün
blau
lila
du gibst viel, ich lass es zu
ich hör dich
ein winziges bächlein
pinkeln
Audrey Liebot wurde 1985 in Nantes (Frankreich) geboren, Sie hat einen master of arts an der manufacture, einer Hochschule für darstellende Kunst in der Westschweiz, erworben. sie kreiert Performances und schreibt Lyrik.
Barbara Peveling, 1974 in Siegen geboren, ist eine Autorin und Anthropologin. Mit dem Roman "Wir Glückpilze" debütierte sie 2009 bei dem Verlag Nagel und Kimche in Zürich. Ihr Roman "Rachid Rebellion" erschien 2017 im Goldegg Verlag, Wien. 2006 Finalistin Open Mike, 2015 Manfred-Görg-Preis. 2021 gibt sie zusammen mit Nikola Richter den Sammelband erzählerischer Essays "Kinderkriegen" in der Edition Nautilus heraus.
Von Natasha Kanapé Fontaine
übersetzt von Ron Winkler
Minishtik
Ich war nicht sofort
Insel
Als du geboren wurdest
Man verzeihe mir
Den frühen Tod
Ich hab die Segel
Vor der Zeit gestrichen
Ich hab mein Sein aufs Spiel gesetzt
Ich bin berühmt geworden
Ich hab meine Tochter
Ein Gespür gelehrt für Sonderwege
Ich hab das Reservat zu Fall gebracht
Ich bin fernab
Der einen, die man schwimmend
Überquert
Und mit der
Man sich dem Licht
Anschließt.
*
Ishpanakau
Meine Erde
Hat mich nie
Gewollt
Ich trinke, trinke
Trinke sie
Ich sehe mich
Erbrechen
Atombombe
Mein Blut
Verströmt
Meine Erde will mich nicht
Dringe ich vor, weicht sie zurück
Entferne ich mich, dehnt sie sich aus.
*
Ich betrinke mich am Ursprung
Der Orkane
Es ertränkt die Inseln
Es entblößt die Inseln
Ich atme nicht
Es bricht mir das Genick
Die Beine zittrig
Die Zuflucht säuft
An der Kaskade
Unserer aufgehäuften Körper
Der vorliegende Text stammt aus der dreisprachigen Anthologie "VERSschmuggel / reVERSible", die im Oktober im Wunderhorn Verlag erscheinen wird. Entstanden ist sie beim "poesiefestival berlin" (5.-11. Juni) und seinem Übersetzungsprojekt "VERSschmuggel/reVERSible". Im Fokus stand dort dieses Jahr Gegenwartslyrik aus Kanada und Quebec. Sechs Dichter*innen aus dem deutschsprachigen Raum trafen coronabedingt in virtuellen Räumen auf sechs französisch- und sechs englischschreibende kanadische Dichter*innen, darunter Natasha Kanapé Fontaine. Die Autorin und Lyrikerin, Jahrgang 1991, stammt aus der Innu-Gemeinde von Pessamit an der Nordküste Quebecs, lebt heute in Montreal und ist eine führende Aktivistin für die Rechte der indigenen Bevölkerung im Land. Im Jahr 2017 gewann sie für ihre Poesie sowie ihr soziales Engagement den sogenannten Prix Droits et Libertés, der von der "Commission des droits de la personne et de la jeunesse du Québec" verliehen wird.
Von Caca Savic
in wackliger Schrift riechst Zeit im Immer
stehst festgehalten ohne Krümmung brichst
in Atemnot, als die Haare zu Ende wuchsen
die Luft stimmte auf Kanon, du risst das
Maul einklang auf die lauteste Unterwerfung.
Trockenübung hast du verbreitet als Anfängerin
aus Unfähigkeit zur Biologie biologija.
Sprechchöre skandieren den Zustand, treffen
die Vorlagen bei Ausatmen und Eindrücken
zeitgleich
Caca Savic wurde in Österreich geboren und wuchs in einem mehrsprachigen Umfeld auf. Sie studierte Kunst- und Kultursoziologie sowie Architektur in Wien und lebt als Autorin in Berlin. Ihre Texte erscheinen in Zeitschriften, Anthologien und Kunstkatalogen. In mehreren Kooperationen mit bildenden und darstellenden Künstler*innen erforscht sie die Schnittstellen von Literatur, Bild, Körper, Raum. Daraus ergeben sich Zusammenarbeiten für Ausstellungen und Performances in Kunstvereinen, Projekträumen und Galerien. Im Jahr 2010 führte sie ein Arbeitsstipendium in der Ray Hughes Gallery in Sydney nach Australien und 2009 ein Arbeitsstipendium ins Museum am Bussen nach Baden-Württemberg. 2017 wurde sie mit dem Kunstpreis des Europäischen Frauenforums für Kunst und Kultur e.V ausgezeichnet. Der vorliegende Text stammt aus dem Gedichtband Teilchenland, das letzten Februar im Verlagshaus Berlin erschienen ist.
Von Lydia Daher
Ich könnte mich mit Luft füllen
und eine zerstreute Geschichte erzählen.
Aber lieber will ich
mein Schweigen auf dein Schweigen legen —
Schnee, der auf Schnee fällt
in einem Tal zwischen heulenden Bergen.
Ich denke das jetzt:
Die Sprache ist frei von Freundschaft.
Und vielleicht ist gerade
nichts so falsch
wie meine Finger auf Tasten
ein Stummfilm, ein undeutlicher
Schatten, während zwei Straßen weiter
Haar wächst, weicher
und schwärzer …
Man muss, wie Born sagt, bescheidener werden.
Aber nichts geht über etwas Besonderes.
Und während ich schreibe, das ist es,
und während ich schreibe, das ist es nicht,
gähnt vielleicht jemand
oder glaubt an mich.
Als wäre die Arbeit
getan damit.
Die 1980 geborene Lyrikerin und Musikerin Lydia Daher lebt in Berlin und veröffentlicht Lyrikbände und Alben mit Popmusik, zuletzt Kleine Satelliten, Graphic Poetry (mit Warren Craghead III) im Maro Verlag und Wir hatten Großes vor, Musikalbum, Trikont Label. Sie arbeitet allein und im Kollektiv auch im Bereich der bildenden Kunst, der Performance und des Hörspiels. Außerdem ist sie als Kuratorin und Moderatorin für Kulturveranstaltungen und als Dozentin für kreatives Schreiben tätig. Ihre Arbeiten wurden mit Preisen und Stipendien ausgezeichnet. Im Auftrag des Goethe-Instituts bereiste sie zahlreiche Länder.
Von Puneh Ansari
Es gab vor 30 Millionen Jahren diese sogenannten
Riesenpinguine auf Neuseeland
Sie waren ca. 1,80 groß
In 30 Millionen Jahren wenn wir ausgestorben sind
gibt's sicher auch so ca. 30cm minimenschen mit ver-
stummelten Fuessen die langsam auf allen 4ren gehen,
die alle suess finden
Es gibt ständig irgendwelche Tiere, die früher mal flie-
gen konnten & jetzt nicht mehr, oder gehen konnten &
jetzt nicht mehr
So ist die Evolution
Eine degenerative Wurst
Kann man die Umweltzerstörung nicht unter "Alles ist
vergänglich'' geben? ich meine was erwartet man sich,
dass Menschen hier leben und die Erde nicht "benut-
zen" ihr das leben ausschlürfen bis es nicht mehr da
ist und dann selbst aussterben? Andere Planeten sind
auch nicht ewig da
dieser Ökoirrsinn soll darüber hinwegwischen, dass
wir schlecht sind
Wir sind schlecht
Wir zerstören uns selbst und die anderen um uns, wir
können gar nicht anders selbst wenn wir uns umbrin-
gen ist irgendwer schon wieder traurig. wir werden
geboren um zu sterben und gebären wieder so sind wir
wir erschaffen um zu zerstören wir lassen uns gegensei-
tig im stich & sterben alleine zuhause und keiner merkt
es wochenlang
Was habt ihr Esoteriker denn geglaubt was passiert,
wenn man sagt "Leben"
Life on Earth
Einen Garten Eden mit gewaschenen kühlen Mini-
pfirsichen und Whirpoolflüssen & bächen mit einem
PerpetuummobileStromkraftwerk das duftenden Zir-
benstrom segnet den ganzen Tag wo Zeichentrickcin-
derellas durch die Blumen hoppeln die ganze gestockte
Zeit
Cartoonmenschen jenseits von gut und böse weil es
kein böse gibt weil alle so "menschlich" sind, ohne
Geschlechtsteile ohne Kindesmisshandlung ohne Ver-
gewaltigungen ohne Rassismus Frauenunterdrückung
Diskriminierung Ungerechtigkeit ohne Krieg und Bru-
talität und ohne Plastik die Leute essen Früchte haben
aber keine Unannehmlichen Verdauungssysteme die
von herzzerreissenden Tumoren befallen werden ohne
Traurigkeit ohne Zerbrechlichkeit dort wo die Guten
immer gewinnen wie im Film
jeder ein erfülltes Leben gehabt haben wird zum Zeit-
punkt seines Todes und immer das Klima superkalt &
skandinavisch frisch so wie ihr das wollt?
hey wacht auf guten Morgen in der Hölle yo
Der vorliegende Text stammt aus dem Buch Hoffnun’ der Autorin und Künstlerin Puneh Ansari. Die 1983 geborene Wienerin und studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaftlerin schreibt über die Zivilisationsmüdigkeit. Sie dreht in ihren poetischen Kurzessays, die zuerst als Posts auf Facebook erschienen sind, bevor sie 2017 im Berliner Verlag Mikrotext veröffentlicht wurden, apokalyptische Pirouetten. Alltägliche Beobachtungen kippen ins Existenzielle, Melancholie trifft auf komische Sprachspiele. Da ist die Wut über den Konsumkapitalismus, da ist die Depression über das „not so very enhanced“, das unfertige Ich, die Enttäuschung über den leergefegten Jobmarkt mit „Berufen“... Ansari schreibt mit einem Rest an Sehnsucht nach einer reparierten, heilen Welt.
Von Anna Hetzer
es muss angenehm sein
in dieser hitze
nackt am fenster
luft zu schöpfen, alleine
sitzt sie, zumindest
vermutet niemand den maler
im raum die besucher
oder sich selbst
vor ihrem mund, der geöffnet ist
ihr blick geht nach oben
wo eine fliege sitzt
unbewegt. unsicher
ob diese fliege ins bild gehört
oder lebt, sehe ich
die dame am empfang
will fragen, die fliege ist
so unbewegt wie die nippel
die vor erregung oder doch kälte
ganz aufgerichtet sind
dann aber bewegt sie sich
rückt vom fenster ab
Anna Hetzer, geboren 1986, lebt und arbeitet in Berlin. Sie hat Medizin, Philosophie und Literatur studiert. Ihre Lyrik wurde in Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht, sowie Songtexte im Rundfunk. Als Monographien erschienen Zwischen den prasselnden Punkten (Verlagshaus Berlin, 2016) und Stempelkissenbuch (SuKuL- TuR, 2017). Sie war Stipendiatin der Villa Decius in Krakau (2017), sowie Finalistin beim Lyrikpreis Meran (2018) und beim Ulla-Hahn-Preis (2018). Mit dem Lyrikkollektiv G13 erkundet sie Formen des kollektiven Schreibens. Der vorliegende Text ist Teil des Gedichtbandes KIPPBILDER, der letzten März im Verlagshaus Berlin erschienen ist. Darin erschließt Anna Hetzer sich Geschichten, Orte, Sprachen, Waren. In ihren Gedichten werden sie doppelbödig, zu Kippbildern ihrer selbst: ein dorf aus kulissen wird zum kontroll- punkt, die Muttersprache wird zum Zungenbrecher, die ausschließt und verrät. Auch Brücken – Symbol der Verbindung – werden ambivalent, zu Orten, wo Grenzen spürbar werden und gleichzeitig verwischen. Im Prisma ihrer Texte zerfällt „große Geschichte“ in konkrete Bilder, die sich mit jeder Zeile neu zusammensetzen.
Von Alexander Graeff
Gedacht habe ich zu oft
: Fürs Werden bin ich viel zu schlapp.
Nicht athletisch wie mein Großer Vater
Fürs Trainingslager war ich nicht gemacht.
Gesagt habe ich zu oft
: Fürs Werden hab ich keine Zeit.
Dieser Gedanke ist so
Flüchtig und ergiebig wie
Die dünne Socke, die — ganz gleich in welchem Schuh —
Immer über deiner runden Ferse ab-
Zippt, weil deine Haut dort so
Besonders wippt.
Sanft ist dein Salbei, er heilt mich
Und meinen Ausbruch ins Daneben
Wo keine blauen Enten
Leben, ich will
Kirschen, Rasensamen
Nicht am Widerstand ersticken.
Alexander Graeff ist Schriftsteller und Philosoph. Er arbeitet auch als Herausgeber, Kurator sowie Dozent für Ethik, Ästhetik und Pädagogik. Er studierte Wirtschafts-, Ingenieur-, Erziehungswissenschaften und Philosophie in Karlsruhe und Berlin. Er veröffentlichte zahlreiche philosophische sowie belletristische Texte. Seine Lyrik und Prosa ist surreal. Er scheut sich nicht vor literarischen Mischformen und transdisziplinärem Arbeiten. So sind bisher zahlreiche Kooperationen mit bildenden KünstlerInnen, IllustratorInnen und MusikerInnen entstanden. Grundlage seiner philosophischen Arbeiten ist eine pluralistisch-konstruktivistische Weltauffassung; die Themen seiner wissenschaftlichen wie belletristischen Texte sind deviante und marginalisierte Phänomene der Geschichts-, Religions- und Sozialwissenschaften. Alexander Graeff lebt in Berlin und Greifswald. Letzte Veröffentlichungen sind Vergessenes Oval (Hg., 2. Auflage Verlagshaus Berlin, 2019), Seelöwen über Kos (SuKuLTuR, 2018), Runen (SIC–Literaturverlag, 2015) und Kebehsenuf (Verlagshaus Berlin, 2014). Der vorliegende Text ist Teil des Gedichtbandes Die Reduktion der Pfirsichsaucen im köstlichen Ereignishorizont, der letzten März im Verlagshaus Berlin erschienen ist. Darin fragt sich der Autor, wie man in einer voreingestellten Welt zu einer eigenen Stimme findet.
Von Maren Kames
Dass dein geflochtenes Haar, wenn der Herbst.
Dass deine Augenfarbe wie meine, dein Gesicht aber eigentlich,
die Krümmung deiner Nase zum Beispiel, mit meinem sonst nichts.
Wie viel Zeit ich dir nicht widme, dass du so selbstverständlich.
Wie deine Hände auf deinem Bauch, unter dem ich lag, mit meinen
Händen am Kopf, zwei Zentimeter groß, wie unsere Hände am Hörer heute.
Dass die Stille in der Telefonleitung zwischen deinem Ohr und meinem,
wie die Stille auf der Straße vor dem Fenster nachts.
Dass ich mich immer im Abstand zu dir eigentlich ändere oder stelle
und verstecke.
Wie ich mich versteckt habe, früher, unter einer Treppe im Haus, wie du
nichts gemerkt hast, wie ich nicht merke, dass der Abstand zwischen uns,
zwei Zentimeter, zweieinhalb Jahrzehnte, und die Kilometer, die Leitungen
und die Stille auf der Straße nachts.
Die Schnur am Telefon, und die Schnur am Telefon, die Hände auf deinem
Bauch, die Schnur unter eine Treppe irgendwo weit.
Dass ich Flecken finde auf deinen Händen, dass deine Verwirrung eine Kapsel.
Wie du vor einem Fenster sitzen wirst, dein Profil im Gegenlicht, die Krümmung
deiner Nase zum Beispiel, dein durchsichtiges Haar.
Dass du dich trotzdem immer noch schminkst und einmischst. Was sich
unter unsere Haut mischt, unter diese Treppe, in die Stille zwischen
meinem Ohr und deinem.
Dass deine Haut, wenn die Jahre, dass du durchsichtig wirst mit der Zeit.
Dass dein Haar dünner wird mit dem Herbst.
Dass du ausfällst irgendwann.
Maren Kames (*1984 in Überlingen am Bodensee) lebt als freie Autorin und Übersetzerin in Berlin. Für ihr Debüt HALB TAUBE HALB PFAU (Secession Verlag für Literatur, 2016) wurde sie unter anderem mit den Jury- und Publikumspreisen des 21. Open Mike, dem Anna Seghers Preis und dem Kranichsteiner Literaturförderpreis ausgezeichnet. 2016 war sie die erste Kooperationsstipendiatin des Literaturhauses Stuttgart und der Akademie Schloss Solitude und übertrug in dieser Zeit den Text ihres Buches in Form einer audiovisuellen Installation als Ausstellung in die Räume des Literaturhauses. Weitere räumliche und interdisziplinäre Umsetzungen des Textes in Form von Live-Hörspielen, Performances und Installationen waren im Haus der Kulturen der Welt, dem Literaturhaus Freiburg, der Ursula Blickle Stiftung und der Kölner Oper zu sehen. 2019 wird sie als Stipendiatin der Villa Aurora drei Monate in los Angeles verbringen. Im Herbst des selben Jahres erscheint ihr zweites Buch LUNA LUNA.
Von Marina Zwetajewa
Ein Auszug aus Mein weiblicher Bruder
(Mein Kind, meine Freundin, mein Alles
und- Ihr geniales Wort, Madame- mein
weiblicher Bruder, niemals: Schwester. Es
ist, als ob ihnen dieses Wort Schwester
Angst einflößte, als ob es sie gewaltsam in
eine Welt verbrächte, die sie für immer
verlassen haben.)
Zunächst fürchtet es die Ältere mehr, als
die andere es herbeiwünscht. Man könnte
sagen, es sei die Ältere, die in sich die
Verzweiflung schafft, Lächeln in Seufzer
verwandelt, Seufzer in den Wunsch, den
Wunsch in Besessenheit. Es ist die Beses-
senheit der Älteren, welche die Besessen-
heit der Jüngeren erschafft. - Du wirst
fortgehen von mir, du wirst fortgehen von
mir, du wirst fortgehen von mir. Du willst
es von mir, du wirst es vom Erstbesten
haben wollen… Schon wieder denkst du
an das… Du hast diesen Mann ange-
schaut. Nicht wahr? - welch ein Vater für
dein Kind! So geh doch, wenn ich es dir
nicht geben kann…
*
Unsere Furcht bewirkt, unsere Ängste
beschwören herauf, unsere Besessenheit
verkörpert. Je länger sie es verschweigt,
desto steter denkt die Jüngere daran, sie
hat nurmehr Augen für die jüngeren Frauen
mit vollen Armen. Zu denken, daß ich nie
eines haben werde, denn niemals, nie
werde ich sie verlassen. (Genau in diesem
Augenblick verläßt sie sie)
*
Das Kind - Blickpunkt, von dem sie
fortan die Augen nicht mehr wird wenden
können. Das verdrängte Kind treibt wie
ein Ertrunkener herauf an die Oberfläche
ihrer Augen. Man müßte blind sein, um es
da nicht zu sehen.
Und sie, die zu Anfang ein Kind von ihr
haben wollte, wird schließlich ein Kind von
irgendwem wollen: von demselben er, das
sie verabscheut hatte. Das er, der Peiniger,
wird zum Erretter. Die Freundin - zur
Feindin. Und der Wind wendet seine
Kreise…
*
Das Kind entsteht in uns weit vor seiner
Entstehung. Schwangerschaften gibt es, die
Jahre der Hoffnung dauern, Ewigkeiten
des Verzweifelns.
*
Und all die Freundinnen, die sich verhei-
raten. Und die Gatten dieser Freundinnen,
so fröhlich, so offen, so nah... Zu denken,
daß auch ich...
Eingemauert.
Lebendig begraben.
*
Und die andere müht sich. Anspielun-
gen, Verdächtigungen, Vorwürfe. Die Jun-
ge: - Du liebst mich also nicht mehr? - Ich
liebe dich, freilich - wo du doch fortgehen
wirst.
Du wirst fortgehen von mir, du wirst
fortgehen von mir, du wirst fortgehen von
mir.
*
Marina Zwetajewa (1892-1941) war eine der größten russischen Dichterinnen des XX Jahrhunderts. Sie schrieb vom Symbolismus beeinflusste Lyrik und Dramen. Tochter eines Professors für Kunstgeschichte und einer Pianistin, reiste sie in ihren jungen Jahren viel durch Europa und lernte deutsch, französisch und italienisch. Nach der Oktoberrevolution von 1917 und dem Tod ihrer zweiten Tochter 1920 in Folge von Hungersnot, reiste sie nach Berlin, dann nach Prag und schließlich nach Paris wo sie viele Jahre verbrachte. Ihren Ehemann, den Offizier Sergej Efron, den sie 1912 geheiratet hatte, blieb sie trotz ihrer zahlreichen heftigen Liebschaften mit Männern und Frauen ihr Leben lang verbunden. Weil ihre Kinder und ihr Ehemann zurück nach Russland wollten, entschloss sie sich nach 17 Jahren Exil 1939 zur Rückkehr in Stalins Sowjetunion. Sie nahm sich am 31.August 1941 das Leben einige Wochen nachdem sie mit ihrem Sohn in die Tatarische Volksrepublik evakuiert wurde. Der vorliegende Text ist Teil eines Briefes Mein weiblicher Bruder, Brief an die Amazone, den sie 1932 auf französisch verfasste. Mit einer blendenden Sprache, stellt er eine der schönsten Reflexionen über die Zweifel und Ängste, die eine Liebesbeziehung zwischen zwei Frauen beschatten kann, dar. Dieser Brief wurde 1995 auf deutsch übersetzt und erschien beim Verlag Matthes & Seitz.
Von Sonja vom Brocke
Hebst du die linke Hand, sage ich ab, senkst du die Lider, zu.
Wenn ich dir nicht trauen kann, löst sich, was ragt und rankt, auf.
So schälte sie sich aus Faltenwürfen, Gesundheit?
Den mündigen Auftritt (ohnehin schon verklebt) ins Licht, die Verhältnisse,
nicht abzubinden, zuzuziehen, hat ungemütliche Folgen. Schärft das Ermessen,
auf der Schneise zur Pedanterie.
Doch wühlen ein umrundender Code. Überhaupt verbindet sich Laub gut.
Echsen-, Ur-, Wasserlaub; Liebeslaube, tropfenabweisende Stirn.
Auf der Treppe die Mutter weinend. Auf der Treppe die Mutter, den Bruder im Arm.
Auf der Stufe vor der Mutter, den Bruder im Arm. Palmen auf Strickpullover, ein Elefant,
Kordelschwanz. Auf der Treppe die Mutter, der Vater oben? Die Mutter weinend.
Die Schwester oben? Die Mutter weint. Die Großmutter neben dem Großvater im
Schlafzimmer unten. Der Vater weinend? Der Vater? Die Mutter, den Bruder im Arm.
Trösten wollend vor der Mutter, den Bruder im Arm. Die Mutter weinend, der Vater.
Der nächste Tag. Die Schwester? Die Oma am nächsten Tag. Haferflocken. Die Mutter
zur Schule und unten die Oma, der Opa zu Arbeit, Haferflocken. Der Vater?
Auf dem Balkon. Die Schwester im Nachthemd, auf dem Balkon.
Fragezeichen hafteten ihr an. Ist eine 0-Mutter
ihre Kamera fiel in die Tiefe.
Verschwommene Wipfel, ärgerer Wuchs, Kliff, ihre Haut, Augen: weder außen
noch innen
über die Straße in Birmingham ein hoher Schuh, folgt einem hohen Schuh
Noten umtanzen die Schuhe
ein Notenschlüssel ruckelt, schüttet Spatzen aus, Durstlöscher
sag, was du willst, die Schuhe stöckeln fort
ein Bus, der um die Ecke wuchtet, in Kreuzberg
in Woodstock
Der Präsenzprimat erstickt ihren Kummer. Sieh, seine von Flaum umzärtelte Rosette!
Setzt er sich drauf. Solche Ausstülpung; der Tod ist erfunden.
Aber Schaukel – Schaukel, erinnerst du dich? Deine Entenart, du Schnabel, an dem
ich mir den Schritt aufrieb. Und die grüne Leiter, auf der ich oben nicht wusste, was tun.
Zum Plastiktümpel, kichernd im Schlick ein paar namenlose Insekten. Jesus tot.
Ein Holzstück in der Kirche. Tot und grob ins Düstere geschnitzt, Spalte, die mich
nicht ansahen. Und Hoffnung, bevor ich mir mehr als das Bächlein ersehnte, Eier
und den Nachbarsjungen, glich einer geschnitzten Schuld.
Nun. Das Zweitnutzungshuhn kleine Rettung? Geschreddert habe ich nicht, zermalmt
nur im Mund. Als Kind kaum empfänglich für Fließbänder, die Gockelselektion,
ein Drücken auf die Kloake, und im Trichter zerhexelt, oder vergast. Als Kind
ein Flechtkorb in den Händen, ausgelegt mit Osterservietten. Die Suche im Garten
nach getüpfelten, gekochten Eiern. Der Hase! Welt verfügbar und geheimnisvoll
zugleich, Odem geploppt unter dem Haselnussbaum, da! Ich hab ihn, und zwischen
die Holzscheite. Und die Hühner danken dem Hermeshasen, tock-tock, stolz auf ihren
essbaren Schmuck.
Doch Magie klebte fest unter dem Mistkäferpanzer.
Verkauzte unter dem Mistkäferpanzer.
Triumphiert die Gockelselektion.
Störenfriede. Machos in alberner Uniform.
Und die Arbeiter tragen Windeln.
Und sie liefen und liefen und der Weg war das Ziel, war die Wüste. Das Maultier
trug Decken und ein Kind, auch ein weiteres Kind, und am Rande blieben sie liegen.
Und sie waren durstig. Und sie wurden gepeitscht, denn der Weg war das Ziel,
und wer sich nicht erhob, der wurde erschlagen. Und das Maultier keilte nicht aus.
Seine trockenen Hufe und Rücken trug Decken, das Kind, und die Alte. Und der Weg
war das Ziel, war die Wüste, ihr innerster Kreis. War Hunger. Und Soldaten schunden
das Maultier, die Frauen, die Männer, Kinder. Und es trieb sie Grimm. Die Alte heulte auf.
Und sie liefen und schleppten, siechten. Und wer sich nicht wehrte, wehrte, der wurde
erschlagen. Denn der Weg war das Ziel. Gab es Geier? Gab es Brot, gab es Wasser?
Wozu Nahrung, wenn der Weg war das Ziel die Wüste.
Aus dem Bildschirm liefen sie, verfrühte Geister, in ihre Brust.
Doch die kann sie nicht bergen. Ihre putzige Brust.
So ging sie in den Topfmarkt, legte Körner in Behälter,
für jeden Abschied einen, zu wenig Behälter
Aya
Aya
die einzigen Töne, die sie vernahm.
Sie schwirrten in der Luft, exakt und vollkommen.
Komma-, klimalos.
Kein Pfeil, der zur Seite zeigte, verfing sich.
Allein, schau, Gruftbraut. Deine fauligen Zähne. Wie du lachst!
Warst eine Aufsässige; doch erst heute erreichst du die wahre Provokation.
Bist eine Brache, müffelnder Bauch.
Rastplatz für Flughunde, der Lustigste schwingt in deinen schimmelnden Lamellen.
Schatten-Schatten-Schatten, das kennt er. Dann fliegt er.
Riech, deine Nichte. Das ist der Babyduft. Das ist der wachsende Mensch.
Hier wird der Mond holde Augen machen und die Physiognomie verlassen.
Aber du? Wiegst sie im Arm wie eine knöcherige Buche.
Lugst zaghaft aus der Verknorpelung: bibberndes, transparentes Wesen ...
Gluckst.
Rosig. Rot. Rosig.
Seine unwägbare Schönheit raubt dir die Luft.
schlimmer als ein Ereignis Natter
knotiger Unmut
deine regellosen Wirbel Beweis
für das Aufgeschlagene, Rohe
vor Achtung
hämisch blickst du drein.
Bist Paragrafmaschine?
Sonja vom Brocke, geboren 1980 in Hagen, lebt als Autorin und Übersetzerin in Berlin. Zuletzt erschien ihr Gedichtband "Venice singt" (kookbooks, 2015). Der vorliegende Text ist Teil eines neuen Manuskriptes.
Von Sandra Gugić
feuchtigkeit zwischen den beinen splitterbruch im kleinen finger
mit dem man erledigt was keines aufhebens wert diese liebe steht
und fällt in pastellerwartungshaltungen verstärkt farbgebung die stimmung
im handlungsbogen darf ich sprechen oder schweigen der unterschied
verwäscht perpetua mobilia schwimmende farbwechsel
von schreien zu schreiben ich als chamäleontarnfarbener geheimtipp
der noch zu entdecken gilt ich im trainingsanzug beim waldlauf mit anspruch
auf vollständigkeit unversehrheit den zeitgeist im nacken ich als piktogramm
handlungsanweisung haustierfrau nicht auf gedanken ideen kommen
es könne anders sein als muttermuttertier ich als bezaubernde
vermeidungsstrategie ich mit dem selbstbewusstsein einer assgebleachten
königin ich als spitze der gesellschaft ich als brutales ödland
ich als penetration in malerischer labiamajoralandschaft lebensgroß
als versöhnung als gefahr oder kontrollparadigma ich als geschichte in der
geschichte ich als weiß der popupinupschablone ich als aktuelle generation
ich als final girl ich als position einer vielseitigen leerstelle
ich als vorstellung vom rande europas
ich als momentaufnahme im augenwinkel
ich als geräusch
von schreien zu schreiben
Sandra Gugić, 1976 in Wien geboren, ist eine serbisch-österreichische Autorin, die in Berlin lebt. Sie studierte an der Universität für Angewandte Kunst Wien und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Sie hat zahlreiche Veröffentlichungen (Prosa, Lyrik, Essays) in Zeitschriften und Anthologien sowie Arbeiten für Theater und Film verfasst. Sie wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet, unter anderem den Reinhard-Priessnitz-Preis in 2016 für Astronauten (Roman, C.H Beck, 2015). Sandra Gugić ist Mitbegründerin von Nazis & Goldmund, einer Autor*innenallianz gegen die europäische Rechte. Ihr erster Lyrikband Protokolle der Gegenwart erscheint 2019 im Verlagshaus Berlin.
Von Odile Kennel
Gedicht mithilfe von Google*
Frauen gehen anders fremd
Frauen gehen häufiger fremd
Frauen gehen geschickter fremd
Frauen gehen aus unterschiedlichen Gründen fremd
Frauen gehen fremd forum
Frauen gehen zu zweit aufs Klo
Frauen gehen in Gruppe aus
Frauen gehen essen
Frauen gehen in Führung
Frauen gehen auf die Barrikaden
Frauen gehen durch die Hölle
Frauen gehen mir auf die Nerven
Frauen gehen in die Wanne
Frauen gehen in Klamotten baden
Frauen gehen sich durchs Haar
Frauen gehen nüchterner mit Aktien um
Frauen gehen zu wenige Risiken ein
Frauen gehen auf die Jagd
Frauen gehen häufiger zum Arzt
Frauen gehen häufiger zum Psychotherapeuten
Frauen gehen nie wütend ins Bett
Frauen gehen mit Messer aufeinander los
Frauen gehen shoppen
Frauen gehen voran
Frauen gehen ihren eigenen Weg
Frauen gehen zum Networken auf den Spielplatz
Frauen gehen nie ungeschminkt aus dem Haus
Frauen gehen offensiv in zweites EM-Spiel
Frauen gehen auf wie Hefe
Frauen gehen zum Frauenarzt
Von Odile Kennel
Gedicht mithilfe von Google*
Frauen denken anders
Frauen denken (noch immer) anders
Frauen denken nur an sich
Frauen denken mehr als Männer
Frauen denken zu viel
Frauen denken nicht logisch
Frauen denken mehr drüber nach was Männer denken
Frauen denken mehr ans Wohnen
Frauen denken emotional
Frauen denken quer
Frauen denken anders Männer nicht
Frauen denken anders Männer auch
Frauen denken anders als wir menschen
Frauen denken mit zwei Hirnhälften
Frauen denken nur ans Geld
Frauen denken logisch
Frauen denken anders übers Geld als Männer
Frauen denken den Irak neu
Frauen denken vernetzend
Frauen denken mit Gefühlen
Frauen denken. Männer nicht. Denken Frauen
Frauen denken an Freundschaft
Frauen denken weniger strategisch
Frauen sagen nie was sie wirklich denken
Von Odile Kennel
Gedicht mithilfe von Google*
Frauen wollen vor allem Geld
Frauen wollen reden
Frauen wollen mehr arbeiten
Frauen wollen mehr
Frauen wollen nicht den Schönsten
Frauen wollen den perfekten Mann
Frauen wollen keinen Mann
Frauen wollen einen Mann, der sie führt
Frauen wollen erwachsene Männer
Frauen wollen kleine Handtaschen
Frauen wollen mich nicht
Frauen wollen Frauen besänftigen
Frauen wollen keine Cinderella sein
Frauen wollen Käthchen werden
Frauen wollen den Pott
Frauen wollen Titel verteidigen
Frauen wollen einen gut aussehenden Partner
Frauen wollen gebundene Männer
Frauen wollen unabhängig sein
Frauen wollen keine längeren Affären
Frauen wollen immer nur das eine
Frauen wollen beides
Frauen wollen alles
Frauen wollen parteiübergreifendes Netzwerk
Frauen wollen wieder richtige Männer
Frauen wollen in langer Beziehung weniger Sex
Frauen wollen Überraschung
Frauen wollen Aepplis Job
*Serie von drei Gedichten nach einer Idee von Angélica Freitas, in: O útero é do tamanho de um punho/der Uterus ist groß wie eine Faust; Übersetzung: Odile Kennel. Für das fertig übersetzte Manuskript wird noch ein Verlag gesucht. Die Übersetzerin dankt für sachdienliche Hinweise.
Odile Kennel, deutsch-französische Lyrikerin, Autorin und Übersetzerin. Zuletzt erschienen: Der Roman Mit Blick auf See (dtv 2017); Gedichte oder wie heißt diese interplanetare Luft (dtv 2013); Der Roman Was sagt Ida. (dtv 2011)
Von Dagmara Kraus
le tlu est mort
poison impoisson
pleurez
Konrad Bayer, L'invocation et miracle du tlu
1
man hat mich aufgemacht
durchsucht den bauch
und fand dich nicht
fand nirgends dein gesicht
nirgends dein versteck
sohn töten
töten wollt ich dich
du warst aber schon weg
2
im dreieck
aus schmerzen
hockst du
klein wie ein tlu
scheu wie ein tlu
tot wie ein tlu
3
vier schwerter zu wenig
vier schmerzen zu klein
um die dolorosa zu sein
eher doloröslein
im dolorosenhain
pflücke sie nicht knabe
weil ihr herz sticht
und sie weint
4
das dritte im nest ist sagen
nach meistens ein männchen
du wurdest nicht
warst nicht tlu
zages
wennchen
5
oase roch speien
ichkanal krank
− kernchen?
kein kernchen
kernchen sei dank
6
alle ritte wich eines
schrunze
terz
schrunde
herzwärts geschrumpft
terz
wunde
drittes
wich eins denn alle ritte
7
keile kut kaleka
da wächst die kleine kut
die kut sie wächst die kut
wachsnich
kut
magsnich
kut
die kut
wächst weiter
keine kut.
8
du fuchsgeist
du öffentlicher bus
dein herz ist schwarz
wie das gift
giftiges harz
du munkathasenbrotquas
du nagelnot
du tochter loths
du leere schot
poison impoisson
tlu tut tot
tlu tut tot
tot
9
kose dich der knochen
Dagmara Kraus, geboren 1981 in Polen, ist eine deutsch-polnische Lyrikerin und Übersetzerin. Seit ihrem Debütband "kummerang" (kookbooks 2012) sind vier Gedichtbände erschienen, zuletzt "wehbuch" (Urs Engeler/roughbooks 2016) und das Kinderbuch "alle nase diederdase" (kookbooks 2018). Sie lebt in Berlin.