Kinderkriegen: Neuland wagen

©André Fromont by Flickr
©André Fromont by Flickr

Ich dachte, Kinderkriegen sei das Einfachste der Welt. War es aber in meinem Fall nicht. Und ich bin nicht die Einzige, die das erfahren musste. Wir sind viele. Ob es dem Zufall, physischer Umstände, dem Lebensmodell, der finanziellen Situation, der sexuellen Orientierung oder dem Fehlen eines/einer Partner(In)s geschuldet ist: Die Hindernisse, die einem bei der Familiengründung im Weg stehen, können so unterschiedlich und komplex wie die Menschen dahinter sein. Dabei sind es ausgerechnet diese Herausforderungen, die zu einer gesellschaftlichen Revolution beitragen. Frauen und Männer werden immer später Eltern und die Familienkonstellationen erweitern sich. Familie bedeutet längst nicht mehr nur Vater, Mutter und Kinder. Es gab und gibt stets die Alleinerziehende. Aber heutzutage auch Patchworkfamilien, Regenbogenfamilien, Co-Parenting und Wahlfamilien. Innerhalb weniger Jahrzehnte ist das Schwangerwerden, früher für die Frauen ein kaum kontrollierbares körperliches Phänomen, zu einer identitätsstiftenden Projektionsfläche geworden. „Man braucht keine Gründe, um zu verhüten, man braucht, im Gegenteil, einen Grund, um schwanger zu werden“, fasst Antje Schrupp es in ihrem Essay „Schwangerwerdenkönnen“ (erschienen 2019 im Ulrike Helmer Verlag) zusammen. Die gigantischen Fortschritte der Reproduktionsmedizin in den letzten Jahrzehnten begleiten und fördern zugleich diesen Wandel. In Deutschland hat sich die Zahl der Kinder, die mithilfe der Reproduktionsmedizin geboren und somit unter Umgehung des „natürlichen“ Weges gezeugt wurden, zwischen 2001 und 2015 auf fast 25.000 verdoppelt. 

 

Verschiedene Methoden

 

Wege, wenn der eigene Körper es allein nicht schafft, gibt es verschiedene. Laut Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ist allein in Deutschland jedes zehnte Paar zwischen 25 und 59 ungewollt kinderlos. Neben der IVF (In-vitro-Fertilisation), bei der Eizelle und Samenzellen in einem Reagenzglas zusammengebracht werden und sich spontan befruchten können, gibt es auch die ICSC (Intrazytoplasmatische Spermieninjektion), bei der eine Samenzelle direkt in die Eizelle gespritzt wird. Darüber hinaus gibt es die Samenspende, Eizellspende, Embryospende, aber auch die Leihmutterschaft; Methoden, von denen die letzten drei in Deutschland aktuell verboten sind. Die Wissenschaft verschiebt nicht nur die Grenze des Machbaren, wenn sie ungewollt kinderlosen Paaren oder Singles zum Kinderwunsch verhilft, sondern führt zu einer Spaltung zwischen biologischer, genetischer und sozialer Elternschaft, insbesondere im Hinblick auf die Mutterschaft. Durch die Eizellspende und die Leihmutterschaft können Frauen und Männer Eltern werden, ohne ihr Erbgut weiterzugeben, und im Falle einer Leihmutterschaft ohne zu gebären. Inzwischen rechnen manche Experte damit, dass in etwa 50 Jahren ein Fötus in einem künstlichen Uterus heranwachsen wird. Dass diese Themen eine gesellschaftliche Herausforderung bedeuten und zugleich dringend Handlungsbedarf besteht, zeigen zwei aktuelle Bücher. In  KINDERKRIEGEN, Reproduktion reloaded, das Ende Januar bei Nautilus erscheint und von der Autorin Barbara Peveling und der Verlegerin Nikola Richter herausgegeben wird, gehen verschiedene Essays aus unterschiedlichen Perspektiven Themen rund um die Reproduktion nach: darunter Kinderwunsch, Mutter- und Vaterschaft, Behinderung und die Bedeutung von Exil für Familie. Es sind vielfältige Stimmen, die berühren und zum Nachdenken anregen. „Jede Kinderkriegen-Situation ist eben eine Andere“, schreibt Nikola Richter in der Einleitung. In Wir nennen es Familie, Neue Ideen für ein Leben mit Kindern  (bei Körber Stiftung bereits erschienen) versucht die Autorin und Journalistin Anne Waak „Familie anders zu denken“, indem sie andere Familienkonstellation unter die Lupe nimmt, uns daran erinnert, dass die Kleinfamiliennorm historisch nur einen Augenblick lang währte und andere Familienmodelle in der Welt existieren.

 

Moderne Medizin, überholte Gesetze

 

Eine gespaltene Mutterschaft bleibt in Deutschland nach wie vor tabu. Die Maxime „Mater semper certa est“, die besagt, dass die Mutter immer sicher ist, bleibt im deutschen Recht fest verankert. Was so viel heißt, wie dass die biologische, genetische und soziale Mutter nicht voneinander getrennt sein darf. Paragraph 1591 des BGB sagt dazu: „Mutter eines Kindes ist die Frau, die es geboren hat.“ Während die Vaterschaft schon lange gespalten ist, – die Samenspende ist seit 1986 eine legale Form der künstlichen Befruchtung in Deutschland – und die Rolle des sozialen Vaters schon lange akzeptiert ist, sieht der Gesetzgeber und ein großer Teil der Gesellschaft lauter Gefahren bei einer nicht klassischen Mutterschaft. Das deutsche Embryonenschutzgesetz (ESchG) von 1991 ist 30 Jahre alt und entspricht weder den gesellschaftlichen Entwicklungen noch den heutigen medizinischen Möglichkeiten. Es führt dazu, dass viele Menschen ins Ausland fahren, um ein Kind zu bekommen. Auch ich konnte nicht auf natürlichem und klassischem Weg Mutter werden und musste mich nicht nur über die Grenzen des eigenen Körpers trauen, sondern auch Ländergrenzen verlassen, um eine Familie zu gründen. Über den Schmerz von ungewollt kinderlosen Menschen, über die Existenz dieser Kinder, die eine andere Zeugungsgeschichte haben oder anders aufwachsen, wird nach wie vor meist geschwiegen. Je nach Umfeld und Kontext wird mit Empörung oder mit Ignoranz auf diese unterschiedlichen Familien- und Reproduktionsmodelle reagiert. Dabei geht es nicht darum, das Geschäft der Reproduktionsmedizin und ihre Exzesse zu negieren. Doch dies wird stets in den Debatten in den Vordergrund gestellt, um den Status Quo zu rechtfertigen, anstatt die aktuell vorherrschenden Gesetze und Moralvorstellungen in Deutschland infrage zu stellen und über ethisch vertretbare Regelungen nachzudenken.

 

Ruf nach Reformen

 

Leider hat die Regierung offensichtlich wenig Interesse, diese Situation zu ändern, wie ihre Antwort auf eine Anfrage der FDP-Fraktion im Oktober 2020 zeigte. Die FDP-Abgeordneten hatten sich für eine Reform des ESchG ausgesprochen und dabei auf das Memorandum der Bundesärztekammer von Februar 2020 bezogen. Sie wollten von der Bundesregierung wissen, ob sie sich mit dem Inhalt des Memorandums auseinandergesetzt hätte und Reformen anvisiert seien. Dieses Memorandum schlägt drei Reformen vor, unter anderem die Abschaffung der sogenannten „Dreierregel“. Ein gesetzlich verankertes Vorgehen in der Reproduktionsmedizin, das vorsieht, dass pro Behandlungszyklus nicht mehr als drei Eizellen befruchtet werden können und keine von ihnen verworfen werden dürfe und das nicht nur nicht förderlich ist, um die Chancen einer Schwangerschaft zu erhöhen, sondern zudem unter Umständen gefährliche Mehrlingsschwangerschaften begünstigt. Darüber hinaus fordern die Ärzte die Zulassung von Eizellspenden, für die viele deutsche Paare ins Ausland gehen müssen, etwa nach Spanien, Österreich, Belgien, Großbritannien u.v.a. Schießlich fordern die Zuständigen eine gesetztliche Regelung der Embryospenden, die dazu führen könnte, dass im Rahmen der künstlichen Befruchtung entstandene, „überflüssige“ Embryos nicht vernichtet, sondern im Sinne der Lebenserhaltung, anderen Paaren gespendet werden dürfen.

 

Die Politik tritt auf der Stelle

 

Die Antworten der Bundesregierung auf diese Anfrage der FDP sind erschreckend und machen klar: Die Reform eines so existenziell grundlegenden Gesetzes interessiert sie wenig. Während auf fast alle Punkte ausweichend erwidert wurde, dass entweder keine Erkenntnisse und Daten vorliegen würden oder Studien nicht in Auftrag gegeben worden seien, war eine Antwort klar: „Eine Änderung des ESchG ist für die 19. Wahlperiode nicht vorgesehen.“ Ebenso enttäuschend ist für viele ReformbefürworterInnen ein mit Spannung erwartetes Urteil des Bayerischen Obersten Landesgerichts München zur Embryonenspende vom 4. November 2020. Dieses befand, dass die Spende besamter Eizellen verboten sei. Angeklagt waren der Vorsitzende sowie zwei Mediziner des Netzwerkes Embryonenspende. Dieses Netzwerk bemüht sich seit 2013 Eizellen, die von einer In-vitro-Fertilisation übriggeblieben sind, nach Freigabe durch die genetischen Eltern, an Paare mit Kinderwunsch zu vermitteln. Die FDP-Politikerin Katrin Helling-Plahr erklärte als Reaktion auf das Urteil, dass das Embryonenschutzgesetz in ihren Augen „noch die Luft seiner Entstehungszeit atme“, die Regelungen aber weder gesellschaftlich akzeptiert noch medizinisch-technologisch und medizinisch-ethisch vertretbar seien. „Ich stehe an der Seite der Menschen mit unerfülltem Kinderwunsch und kämpfe daher für ein Fortpflanzungsmedizingesetz, das als modernes Chancengesetz und nicht als generalisierendes Verbotsgesetz ausgestaltet sein muss. Wir brauchen endlich einen zeitgemäßen Rechtsrahmen, der Menschen hilft, ihre Kinderwünsche zu erfüllen. Dazu gehört die Legalisierung der Eizellspende und der Embryonenspende, mit der Implementierung eines entsprechenden Spendeverfahrens und die Legalisierung der nichtkommerziellen und altruistischen Leihmutterschaft.“

 

Familie in vielfältiger Gestalt

 

Ob dieses Vorhaben bald Realität wird, ist zu bezweifeln. Das Land hält akribisch an der Norm der traditionellen Familie fest, als sei das Glück nur in diesen engen Grenzen zu suchen. Bis heute behandeln einige Kinderwunschpraxen keine homosexuellen Paare oder Single-Frauen. Ein Tabu, das sich nicht zuletzt auch auf die betroffenen Kinder schwer auswirkt. Diese wachsen oft auf, ohne ihre genaue Abstammung zu kennen. Ein modernes Fortpflanzungsgesetz würde somit auch ihnen zugute kommen. Bereits 2015 hat der BGH bekräftigt, dass Kinder in Deutschland, die mit einer Samenspende gezeugt wurden, das Recht hätten, Kenntnis über die Identität ihres genetischen Vaters zu bekommen. Dieses Wissen sei „für die Entfaltung der Persönlichkeit von elementarer Bedeutung“. Eine Liberalisierung der Gesetze reicht dennoch nicht aus. Es muss ganz grundsätzlich über das „Kümmern um Kinder“ diskutiert werden und darüber, dass eine liebevolle Beziehung zu einem Kind nicht zwangsläufig eine biologische Beziehung voraussetzt. „Die Familie stirbt nicht aus. Wir entdecken gerade erst, welche Gestalt sie annehmen kann“, schreibt Anne Waak am Ende ihres Buches zu Recht. Darüber müssen wir sprechen. Und nicht trotz der Pandemie, sondern gerade weil wir uns darin befinden und wir Gefahr laufen, alles beim Alten zu belassen.

 

Cécile Calla und Jana Idris