In den grauen Winterwochen des Lockdowns habe ich oft davon geträumt, dass wir Frauen uns zusammenschließen und uns dagegen wehren, die durch die Schulschließungen zusätzliche entstandene Care-Arbeit wie selbstverständlich zu übernehmen, uns für alternative, coronakonforme Lernkonzepte einzusetzen, Druck ausüben und mehr Hilfe für all diejenigen zu erzwingen, die durch die Pandemie vereinsamen und verarmen. Nur fehlte oft die Kraft für diesen Kampf und offensichtlich auch ein kollektives Bewusstsein für diese Misslage. Dafür braucht man Worte.
Gelebte Solidarität unter Frauen
Emanzipatorische Bewegungen bringen oft neue Begriffe mit sich. Sie stellen Missstände in Frage, machen auf Konflikte aufmerksam und fördern somit eine kollektive Reflexion zu brennenden gesellschaftlichen Themen. So entstand vor einigen Jahren auch der Begriff Feminizid. Dieser Neologismus verdeutlicht, welche soziale Dimension sich hinter Frauenmorden verbirgt, nämlich nicht "nur" ein „Familiendrama“, oder eine „Beziehungstat“, wie es manche Journalisten noch heute fälschlicherweise bezeichnen, sondern strukturelle Gewalt gegen Frauen. Auch für die gelebte Solidarität unter Frauen fehlt im deutschen ein entsprechender Begriff. Auf Englisch heißt sie sisterhood, auf Französisch sororité. Dieses Konzept wird in Deutschland wenig thematisiert. Und womöglich auch wenig gelebt? Wenn überhaupt davon die Rede ist, dann kommt eher das englische Wort sisterhood zum Einsatz. Zum Beispiel bezieht sich Tijen Onaran, die erfolgreiche Gründerin von Global Digital Women, immer wieder auf dieses Prinzip. Ansonsten werden Substantive genutzt, die von Schwester abgeleitet werden. Die Buchhändlerin Emilia von Senger appellierte an „eine neue Schwesternschaft“, bevor sie ihre Buchhandlung „She Said“ in Berlin 2020 eröffnete, in der ausschließlich Bücher von Autorinnen und queeren Autor*innen verkauft werden. Vor zwei Jahren forderte die Grünen-Chefin und frischgekrönte Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock einen „feministischen Aufbruch mit einer neuen Schwesterlichkeit“.
Brüderlichkeit als politisches Konzept
Das französische Wort „sororité“ kommt aus dem Lateinischen soror und bedeutet Schwester. Im Mittelalter bezeichnete das Wort eine religiöse Frauengemeinschaft. Ab dem XVI. Jahrhundert wurde es allgemein mit einem Frauenkollektiv assoziiert, das solidarisch und gleichberechtigt lebt. Im Zuge der französischen Revolution wurde der Begriff „Brüderlichkeit“ als politisches Konzept universell konzipiert, aber nicht an Frauen adressiert. Neben Freiheit und Gleichheit wurde der Begriff 1848 zum Grundsatz der französischen Republik, aber Frauen hatten kein Wahlrecht und waren gesetzlich Bürgerinnen zweiter Klasse. So markierte der Begriff „Brüderlichkeit“ die Konstituierung einer männlichen, politischen Gemeinschaft, von der Frauen ausgeschlossen waren.
Deswegen war es wesentlich für Feministinnen, dem einen weiblich konnotierten Begriff entgegenzusetzen. Der Begriff Sororität klingt politischer als Schwesternschaft, erinnert an Sonorität (Klangfülle) und sollte auch im Deutschen seinen Platz finden.
Kollektives Bewusstsein für die bestehenden Machtverhältnisse
Doch worum geht es dabei? Ganz sicher nicht um eine kitschige, bedingungslose Liebe oder Freundschaft aller Frauen. Es bedeutet auch nicht, dass Frauen sich nicht miteinander streiten dürfen. Es geht darum, dass eine Frau ihrem weiblichen Gegenüber grundsätzlich nicht als Rivalin oder gar Feindin begegnet. Daraus schließt sich ein kollektives Bewusstsein für die bestehenden Machtverhältnisse und der Wunsch, sie zu ändern. Für Frauen anderer sozialer Klassen und Person of Colour, mag dieser Begriff auch passender als der des Feminismus erscheinen, da letzterer von einigen als elitär wahrgenommen wird. Sororität ist eine Art Werkzeug, eine Lebensethik, die dazu dienen kann, die alten patriarchalen Wände einzureißen. Für mich heißt das ganz konkret, von Anfang an Offenheit und Vertrauen gegenüber anderen Frauen zu zeigen. Dies entfaltet sich am Besten in geschützten Räumen, an denen Frauen unter sich bleiben können.
In den letzten zehn Jahren sind zwar in Deutschland, wie in vielen anderen Ländern auch, etliche Frauennetzwerke entstanden: Viele Frauen haben erkannt, dass sie sich – nach Jahrhunderten männlicher Vetternwirtschaft – auch untereinander solidarisieren und zusammenschließen müssen. Und zwar dieses Mal nicht, um gemeinsam die Wäsche zu waschen oder sich die Fingernägel zu lackieren, sondern um etwas zu verändern, um Politik zu machen. Doch auch in diesen sogenannten „geschützten Räumen“ weht nicht immer ein Geist der Sororität. Viele Beobachter weisen darauf hin, dass, sobald Macht und Ehrgeiz ins Spiel kommen, es schwierig wird, Rivalitäten und Eifersucht zu vermeiden. Doch gibt es dabei einen entscheidenden Unterschied zu Männern. Frauen haben bis dato eine andere Position in der Gesellschaft und haben nicht wirklich gelernt, diese Gesellschaft mitzugestalten, ihre Stimme öffentlich zu erheben, sich einzubringen, kurzum die Welt da draußen zu verändern.
Einsame Kämpferinnen
Sie verdienen immer noch weitaus weniger als Männer, die Hauptlast der Haus- und Sorgearbeit wird nach wie vor Frauen abverlangt und weibliche Führungskräfte sind immer noch eine Minderheit. Diese Realität wird von Narrativen umrahmt, sei es von Filmen, Literatur oder der Geschichtsschreibung, die immer dieselben Szenen umreißen, und zwar die der Einzelkämpferin inmitten einer männlichen Gruppe: Jeanne d’Arc, Cleopatra, Pony Hütchen bei „Emil und die Detektive“, Prinzessin Leila in „Star Wars“. Weibliche Banden oder Beziehungen sind zudem selten positiv konnotiert: böse Stiefmütter, perverse Freundinnen, schamlose Geliebte und kühle Schwiegermütter bewohnen in Scharen unsere Phantasie. Die Angst, Papa nicht zu gefallen, die Unmöglichkeit, sich dem männlichen Blick zu entziehen, ziehen unsere ganze Aufmerksamkeit auf sich. So werden wir von der Idee geprägt, dass es die wenigsten nach oben schaffen können und dass es auf dem Olymp nur wenige Plätze gibt. Das führt zu Verhaltensweisen, die das Gesetz des Stärkeren huldigen, das Recht auf Fehler abweisen sowie Arroganz und Verachtung fördern – typische Ausdrucksformen des Patriarchats. Männer sprechen absurderweise vom „Zickenkrieg“, obwohl sie selber diese Matrix erschaffen haben. Die Feministin Christina von Braun, die ihre Memoiren mit dem Titel „Geschlecht“ vor kurzem veröffentlicht hat, sprach dies in ein Interview mit Der Spiegel an: „Viele Frauen mussten sehr kämpfen, um etwas zu erreichen. Sie haben einen großen Drang, das zu betonen: Hier ist mein Territorium und das habe ich mir allein erfochten. Aus dieser Erfahrung heraus ein solidarisches Gefühl zu entwickeln, ist nicht immer einfach. Frauen sind noch immer zu oft einsame Kämpferinnen“.
Beginentum
Doch hat eine weibliche Solidarität immer schon existiert und existiert auch weiterhin. In einem Gespräch mit der Tageszeitung Le Monde im Jahr 2005 berichtete die Shoah-Überlebende und ehemalige Ministerin Simone Veil davon und verband sie mit ihrer Erfahrung im KZ: „Ich fühle mich feministisch, sehr solidarisch mit Frauen, egal wer sie sind... Ich fühle mich sicherer bei Frauen, vielleicht wegen der Deportation? Im Lager war ihre Hilfe uneigennützig, großzügig, nicht die der Männer.“
Man könnte sich auch auf das Beispiel des Beginentums beziehen. Es entstand im 12. Jahrhundert und war in ganz Europa verbreitet. Alleinstehende Frauen schlossen sich in Beginenhöfen oder Konventen zu spirituellen Gemeinschaften zusammen. Sie gehörten keinem kirchlichen Orden an. Das Zusammenleben war freier und weltlicher organisiert und bot eine Alternative zur Heirat oder dem einsamen Witwendasein. Diese Geschichte bleibt noch weit unbekannt und unerforscht. Seit Ende der 1980er Jahre versuchen wieder einige Frauengemeinden an die Tradition der Beginen anzuknüpfen, doch zählt man bisher deutschlandweit nur 17 Beginenhöfe.
Renaissance
In den Siebziger Jahren entdeckten die Feministinnen diese besondere Solidarität neu und wählten sie zu ihrem Slogan. Viele Frauen machten zum ersten Mal die Erfahrung eines kollektiven politischen Aktivismus, die auch bahnbrechende Änderungen mit sich zog. Die amerikanische Feministin und Dichterin Robin Morgan veröffentlichte Sisterhood is powerful im Jahr 1970 und die französische Frauenbewegung Mouvement de libération de la femme (MLF) stellte 1971 dieses Konzept in den Mittelpunkt der Frauenhymne: "Allein in unserem Unglück, Frauen, Eine von der anderen ignoriert, Sie haben uns getrennt, Frauen, Und von unseren Schwestern getrennt. Die Zeit des Zorns, Frauen, Unsere Zeit, ist gekommen, Lasst uns unsere Stärke erkennen, Frauen, Lasst uns Tausende entdecken.“
Seit der #MeToo-Welle im Jahr 2017 erlebt dieses Konzept eine Renaissance. Die Klima-Notlage und der damit verbundene Aufstieg des Ökofeminismus befeuert das Interesse. Die zunehmende Beliebtheit der Hexe als positiv belegte Figur, unter anderem durch den Erfolg des Buches von Mona Chollet Hexen, die unbesiegbare Macht der Frauen ist ein weiterer Beleg für die Rückkehr dieses Bewusstseins. Wir erleben mehrere Kämpfe gleichzeitig, etwa den Kampf um Gleichberechtigung, den Schutz des Planeten, eine neue Wirtschaftsordnung –und müssen daher die Frontlinien klar benennen.
In Frankreich wurde in den letzten Jahren sehr viel über dieses Konzept und seinen Namen diskutiert. Manche Feministinnen bevorzugen etwa den inklusiven Begriff adelphité („Geschwisterschaft“) aus dem Griechischen, ein Begriff, der Bruder und Schwester gleichzeitig adressiert. Anfang April ist ein Sammelband von unterschiedlichen Texten, Essays, Liedern und Gedichten mit dem Titel „Sororité“ im französischen Verlag Points erschienen. 14 Autorinnen darunter Schriftstellerinnen, Lyrikerinnen, Journalistinnen, Regisseurinnen, Aktivistinnen, Philosophinnen, Sängerinnen erzählen darin, was sie unter diesem Begriff verstehen und welche Rolle er für sie spielt.
Sororität ist ein Machtmittel
„Sororität“ ist alles anderes als selbstverständlich, vor allem in einem kulturell-feministischen Kosmos, in dem Freiberuflerinnen oft auf sich allein gestellt sind und an ihrem individuellen Erfolg hartnäckig arbeiten müssen. Ähnlich wie bei einem Garten muss ständig an ihr gearbeitet werden. Für mich steht heute fest: Feminismus ohne Sororität kann nicht funktionieren und wird nichts verändern. Eine Überzeugung, die sich durch das vergangene Jahr nur noch verstärkt hat.
Die Pandemie hat nicht nur den Zustand der Ungleichheiten offensichtlicher gemacht, sie zeigt, dass unsere Bedürfnisse ohne ein „Wir“ nicht erhört werden, egal wie sehr die eine oder andere Publizistin bekannt ist oder gelesen wird. Wie bei anderen Müttern schlugen die Wellen der Pandemie wie ein Tsunami auf meinen Alltag ein und reduzierten mein Leben auf die vier Wände der Kleinfamilie und ein paar Bildschirme. Zum Glück konnte ich in dieser Zeit sehr schöne Projekte mit anderen Frauen entwickeln. Ohne sie hätte ich heute wahrscheinlich nicht die Kraft, weiterzumachen. „Sororität“ ist nicht einfach ein neues feministisches Tool, sondern ein Machtmittel. An die Waffen, meine Schwestern!
Cécile Calla