Der französische Universalismus, das Kopftuch und die Intoleranz

© Abdel Charaf by Flickr
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Manchmal blicke ich auf mein Geburtsland wie auf einen Verwandten, mit dem man fremdelt. Solche Gefühle entstehen bei mir, wenn ich die Debatten über Laizität und insbesondere über das Kopftuch in Frankreich verfolge. Um es vorweg zunehmen: Weder habe ich vor, ein Kopftuch zu tragen noch es jemandem zu empfehlen. Ich unterscheide auch sehr wohl zwischen einem Hijab und einer Burka. Aber als Frau und Feministin weiß ich nur allzu gut, wie der Körper von Frauen und deren Kleidung für gesellschaftliche Schlachten instrumentalisiert werden. Viele Deutsche wissen es vermutlich nicht, aber die Frage des Kopftuchs löst bis heute hysterische Anfälle in Frankreich aus, die manchmal einer Psychose ähneln. In Deutschland gibt es natürlich auch viele Diskussionen und Hetzkampagnen gegenüber diesem kulturell-religiösen Symbol, – da muss man nur ein Blick auf Pegida oder den Erfolg der Bücher von Thilo Sarrazin werfen – aber in der Regel geraten die Mehrheit der deutschen Gesellschaft und die Medien hierzulande nicht in einen kollektiven Wahnzustand, weil eine Frau mit einem Burkini im Schwimmbad badet oder ein Hijab zum Joggen bei Zalando verkauft wird. Das Museum für angewandte Kunst in Frankfurt präsentiert sogar bis Mitte September eine Ausstellung über islamische Mode in Frankfurt, die zwar Kritik von manchen Feministinnen geerntet hat, aber jedenfalls nicht das ganze Land in Aufruhr versetzt hat. 

 

Dies wäre in Frankreich undenkbar. Ende Februar musste der Sportgeräte- und

-bekleidungshändler Decathlon einen Runninghijab aus dem Verkauf nehmen, nachdem er Morddrohungen und haufenweise Kritik aus allen politischen Lagern erhalten hatte. In meinem Land bekommen Autoren, Essayisten und Aktivisten, die sich völlig undifferenziert oder voller Hass über Frauen mit Kopftüchern oder generell über Muslime äußern, den roten Teppich ausgerollt. So zum Beispiel der Journalist und Essayist Eric Zemmour, der seit Jahren seine Intoleranz ungehemmt predigen darf. Oder Zineb El Rhazoui, eine franko-marokkanische Aktivistin und ehemalige Journalistin von Charlie Hebdo, die das französische Gesetz der Laizität zu ihrem atheistischen Kampf missbraucht und einen Diskurs der Intoleranz produziert, der die Spannungen der französischen Gesellschaft weiter verschärft und das Bild der Mehrheit der Muslime verzerrt. So konnte sie im September 2018 bei dem französischen Nachrichtensender CNews behaupten, dass Frauen mit Kopftüchern « einen radikalen Islam vertreten (…)“ und dass „das Kopftuch zu einer ideologischen Einstellung gehört, die letztlich im Terrorismus mündet“. Solche unfassbaren Vermischungen völlig unterschiedlicher Aspekte hindern viele Medienhäuser nicht dran, sie zu hofieren. Die bekannte Wochenzeitschrift, Le Point, ehrte sie Anfang April mit einem langen Gespräch und ihrem Porträt auf dem Cover mit dem Titel: „Die Frau, von der die Islamisten Angst haben“. Die Tatsache, dass sie früher bei Charlie Hebdo gearbeitet hat und wegen ihrer regelmäßigen Islamkritik viele Morddrohungen – die natürlich in keiner Weise zu rechtfertigen sind – erhalten hat, macht sie aus Sicht vieler Zeitungen glaubwürdig. Ihre mediale Präsenz spiegelt den schweren Umgang der französischen Gesellschaft mit dem Islam und die Rigidität des republikanischen Universalismus im Jahrhundert des Individuums wider. Manchmal stellt eben dieser republikanische Universalismus oder die Art, wie er interpretiert wird, kein Instrument zur Integration dar, sondern eher einen Rahmen, der ausschließt oder der einfach nur verhindert, das Anderssein zu denken. 

 

So ging es mir früher mit dem Kopftuch. Ich bin in Boulogne Billancourt aufgewachsen, einem Ort bei Paris, wo viele Arbeiter aus dem Maghreb für die Renault-Werke arbeiteten. Meine Eltern, ein deutsch-französisches Paar, zogen mich mit katholischen Traditionen auf: Gottesdienst am Sonntag, Katechismus wöchentlich und religiöse Fahrt einmal im Jahr. Sozusagen ein Kontrastprogramm zu der Erziehung meiner Schulkameraden, davon sehr viele Kinder mit einem nordafrikanischen Hintergrund. Eine Art „Kulturclash“ würden manche heute sagen. Damals, Anfang der 1980 Jahre, spielte es aber keine Rolle. Man sah auch keine Kopftücher. Plötzlich tauchten sie im Laufe der 1990er Jahre auf. Diese neue Entwicklung kam sowohl in meinem persönlichen Umfeld als auch in Medien und Politik nicht gut an. Seit der sogenannten „Kopftuchaffäre“, der „affaire du foulard“ im Jahr 1989, bei der ein Gymnasium Schülerinnen mit Kopftuch vom Unterricht ausgeschlossen hatte und so eine medial-politische Debatte entfacht wurde, reibt sich das Land regelmäßig an diesem Stoff. Auch ich ließ mich von der Idee infizieren, dass das Kopftuch den französischen Universalismus grundsätzlich bedrohe. Im Frühling 2003, während ich als freie Journalistin bei Le Figaro arbeitete, wurde ich auf eine Reportage ins nordfranzösische Lille geschickt. Die Stadt hatte sich entschieden, für einige Stunden pro Woche eines der vier öffentlichen Schwimmbäder nur für Frauen zu öffnen und die Fenster des Bades mit dunklen Stoffen zu bedecken. Burkinis existierten damals noch nicht. Ich rief die Stadt an und fragte, warum eine solche Initiative ergriffen worden sei und verwies dabei als gute Schülerin des französischen Universalismus auf das Prinzip der Laizität ohne genau zu wissen was das Gesetz beinhaltete. Die Frau am Telefon seufzte – ich war offensichtlich nicht die Erste, die das fragte – und begründete diese Entscheidung mit der Hoffnung, den muslimischen Frauen aus den armen Vororten mehr Möglichkeiten zu geben sich in das Leben der Stadt zu integrieren. Ihre Antwort ließ schnell bei mir Zweifel hochkommen. „Was haben wir denn zu verlieren, wenn wir diesen Frauen eine solche Möglichkeit anbieten?“ , fragte ich später einige meiner männlichen Kollegen. Diese reagierten mit einer hasserfüllten Haltung gegenüber diesen Frauen, „die sich dem Gesetz der Republik anpassen müssten“. Ich war schockiert, fühlte mich dennoch zu unerfahren, um zu widersprechen und schrieb brav meine Reportage.

 

Als ich dann ein halbes Jahr später nach Berlin zog, entdeckte ich einen anderen Umgang mit religiösen Zeichen. Zunächst einmal überraschte mich im Bürgeramt die Frage nach meiner Religionszugehörigkeit. In Frankreich ist die Frage des Glaubens Teil der Privatsphäre. Ein französischer Politiker würde nie seine Religionszugehörigkeit auf seiner Webseite publik machen, so wie es oft deutsche Politiker tun. Es gibt auch keinen Religionsunterricht in der Schule und keinen Bezug zu Gott in der Verfassung. Dann traf ich für einen Artikel, den ich für Le Monde schrieb, die deutsche Konvertitin Maryam Brigitte Weiss. Sie stritt mit dem Land Nordrhein-Westfalen um ihr Recht, als Lehrerin in Kopftuch unterrichten zu können. Eine Vorstellung, die für mich damals völlig absurd wirkte. Während des Gesprächs stellte ich fest, dass diese Frau weder einem Mann unterworfen war - sie war geschieden – noch vorhatte, anderen Frauen vorzuschreiben, wie sie sich anziehen müssten. Sie wollte einfach „keine halbe Sache“ mit ihrem Glauben machen. Es war aber vor allem die Auseinandersetzung mit der feministischen Literatur und mit den Schriften einiger Autorinnen und Journalistinnen mit Kopftuch, die mich von meinen Vorurteilen bezüglich dieses kulturell-religiösen Tuchs befreiten. Heute weiß ich, dass Frauen die in Europa ihre Haare bedecken, es auch frei entscheiden können. Zumindest häufiger als viele meiner Landsleute es denken.

 

Das Gesetz zur Trennung von Kirche und Staat ist eigentlich kein Gesetz der Intoleranz. Im Gegenteil. Die Väter des Laizitätsgesetzes hatten sich im Jahr 1905 für einen Kompromiss entschieden, der die Neutralität des Staates in Sachen Religion und den Schutz der Gewissensfreiheit proklamierte, also das Recht zu glauben oder nicht zu glauben. Die Säkularisierung, die mit der französischen Revolution begann, wurde damit vervollständigt und die Laizität bildet seitdem einen Grundpfeiler der Republik. Leider wird es heute oft missverstanden. Das zeigt die völlig absurde Szene im Sommer 2016, in der ein Polizist infolge der zeitweisen französischen Burkini-Verboten (sie wurden von dem obersten Verwaltungsrat gestoppt) an einigen Badeorten, eine muslimische Frau am Strand von Nizza aufforderte, sich teilweise zu entkleiden. Oder die regelmäßigen Forderungen nach weiteren Kopftuchverboten, obwohl es schon mehrere Gesetze in Frankreich gibt: Seit 2004 ist das Kopftuch in Schulen verboten und seit 2011 gibt es ein Verbot der Ganzkörperverschleierung in der Öffentlichkeit. Zwei Gesetze, die die französische Gesellschaft keineswegs befriedet haben. Sicherlich hat Frankreich eine andere Kultur und Tradition als Deutschland und anderen Ländern. Politik und Gesellschaft sind nach wie vor stark durch den Zentralstaat geprägt. Forderungen von Minderheiten begegnet man stets mit Misstrauen, wie etwa das Schicksal der regionalen Sprachen beweist. Auch muss man berücksichtigen, dass das Land mehrmals Opfer von islamistischen Terrorakten in den letzten Jahren war. Dennoch könnte man andere politische Akzente setzen. Staatspräsident Emmanuel Macron ist zwar kein Anhänger von neuen Verboten und vertritt bis heute tolerante Meinungen gegenüber Gläubigen und insbesondere Muslimen. Aber er scheint oft allein mit dieser Haltung dazustehen. Die neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardern beweist vorbildlich, dass man mit Terror und Spaltungsversuchen anders umgehen kann. Ihre Entscheidung, bei ihrem Kondolenzbesuch der islamischen Community und Opferangehörigen nach dem Terroranschlag in Christchurch, einen schwarzen Hijab zu tragen, begründete sie wie folgt: Sie wolle „ den muslimischen Frauen mit Kopftuch ein Gefühl von Sicherheit vermitteln“. Von einem solchen Empathievermögen sind wir in Frankreich, aber auch in Deutschland weit entfernt.

 

C.C