Warum landet man manchmal am richtigen Ort, an einem Ort, der nicht fremd wirkt, obwohl man das erste Mal dort ist? Diesen Sommer verbringe ich in einem Haus im hintersten Winkel der Landes, eine Provinz im Südwesten Frankreichs, eine frühere Heide, die von Schafen und Hirten durchschritten wurde und nach und nach seit Mitte des Neunzehnten Jahrhunderts bewaldet wurde. Auf diesem Territorium bestehend aus Moor, Pinienwäldern und ein paar eingeschlafenen Dörfern, versteckt sich am Ende eines sandigen Erdweges ein typisches mit Kalk blanchiertes Fachwerkhaus der Landes in einer riesigen Lichtung.
Das Erste was ich nach meiner Ankunft merke, ist die Stille. Menschliche Stille, die manchmal von einem Specht unterbrochen wird. Nachts schreien die Eulen von den benachbarten Wäldern während die Fledermäuse, die sich manchmal in unserem Schlafzimmer verirren, über unsere Köpfe fliegen als seien sie Teil einer Choreografie. In dem Bücherregal des Wohnzimmers, entdecke ich nach einigen Tagen Bücher der früheren Besitzerin dieses Reiches: Michèle Perrein, eine Journalistin und Autorin, die in der Region aufgewachsen ist und deren viele Romane sich dort abspielten. Einer der Titel zieht sofort meine Aufmerksamkeit auf sich: La Margagne. Im Gaskonischen, die ursprüngliche Sprache dieser Provinz bedeutet es der schwache Punkt. Auf dem Cover ist eine typische Scheune der Region abgebildet. Ich öffne das Buch und fange an zu lesen: Eine Frau erwacht erschöpft von ihren Albträumen auf. Sie verbringt gerade ein paar Tage alleine in ihrem Landhaus, « La Margagne ». Viele Szenen und Erinnerungen mit ihrem Ehemann zu dem sie eine komplizierte Beziehung hat, oder ihren drei Kindern, drei heranwachsende Jungen, durchstreifen diese Tage der Einsamkeit. Nach einigen Seiten erkenne ich dieses Haus und die Umgebung, in der ich drei Wochen mit meiner Familie verbringe: der Steinbrunnen vor dem Haus, die zwischen den Wänden des Hauses eingerahmte und nach Osten gerichtete Terrasse, im Gaskonischen « Estendade » benannt, die Fledermäuse die nachts über das Bett die Luft durchschneiden, die Rehe, die vorsichtig über die Wiese der großen Lichtung laufen, die alten grauen Fensterladen und sogar die Herberge im benachbarten Dorf.
Den Roman hat sie im Sommer 1987 geschrieben, man hört das Echo der damaligen Konflikte (Irak, Iran, Nahost…). Sie beschreibt vor allem mit einer unvergleichbaren reichen, ironischen und poetischen Sprache diese Region, ihre Menschen, die bescheidenen und sehr würdigen Frauen, ihre Zweifel und Fragen gegenüber ihrer Beziehung und ihrem Leben. Sie scheint Distanz zur Großstadt zu suchen, sie ist auf der Suche nach der richtigen Existenz. Ihr Ekel gegenüber der Allmacht der Technik und des Konsums, die unseren Alltag beherrschen, ist mir vertraut. Weit entfernt von dem Geräusch der Menschen, in einer Lichtung umgeben von Eichen und Pinien, versucht sie sowie ich es mir selber wünsche, anders zu atmen und zu denken. Ich merke wie Seite für Seite, diese Frau, diese Autorin mir allmählich nah kommt.
Ich will unbedingt mehr über sie, über ihren Weg erfahren. Durch Wikipedia, gelange ich schnell zu einigen Grundinformationen. Sie ist 1929 in der Region Gironde geboren, hat in Paris für viele verschiedene Zeitungen gearbeitet und sich einen Namen als Autorin von achtzehn Romanen und zwei Theaterstücken gemacht, war regelmäßiger Gast bei der damals angesehensten Literatursendung der Siebziger und Achtziger Jahre, Apostrophes, und bekam einige Literaturpreise.
Vor allem war sie eine Feministin, aber keine Feministin, die berühmt geworden ist. Sie hielt eine gewisse Distanz zu der damaligen feministischen Bewegung Mouvement de libération des femmes (MLF), die sie als zu feindlich gegenüber den Männern empfand. Sie soll diesen Satz gesagt haben: « Ich bin Feministin aus Liebe zu den Männern geworden ». Ich muss lächeln als ich das lese. Eine solche Erklärung klingt bis heute ziemlich provokant in den Ohren vieler Feministen. Sie war der Ansicht, daß jedes Geschlecht unterschiedliche Spezifitäten in sich birgt und diese Nuancen zu wenig in den Debatten um die Emanzipation durchsickern. Gleichzeitig warf sie einen sehr scharfen Blick auf die Situation der Frau und ihrer Rechte. 1971 schrieb sie den Roman La partie de plaisir, auf deutsch bedeutet es « Der Moment des Vergnügens », in dem sie über eine junge Frau schreibt, die ungewollt schwanger wird und an ihrer illegalen Abtreibung fast sterben wird. Vier Jahre vor der Legalisierung der Abtreibung in Frankreich, verlangte sie das Recht für Frauen ihre Schwangerschaft zu unterbrechen. Noch aktueller und wie ein Vorgeschmack der #MeToo-Debatte, veröffentlichte sie 1978 den feministischen Essay Entre chienne et louve, auf deutsch bedeutet es « Zwischen Hündin und Wölfin », eine Reflexion über die Gewalt von Männern gegenüber Frauen. Darin schildert sie die vielen sexuellen Übergriffe, insbesondere in den Machtsphären, die alltäglich stattfinden. « Die Frauen, die die wenigen mächtigen Plätze erobern können, spielen sich selbst etwas vor, um es zu glauben und wollen sich weismachen, dass das weibliche Geschlecht nicht unterworfen wäre. Wenn es unterworfen ist, dann will es das gern. Seht uns an. Wir sind der Beweis. Wir sind Ministerinnen, wir sind Abgeordnete, wir sind die Leiterinnen von irgendetwas, wir sind Autorinnen, wir sind Journalistinnen. Wieviele sind wir? Von was sind wir der Beweis? (…) Aber ich möchte nicht ein Alibi sein, ich will keinen Zucker, ich will keinen Anteil der Macht, ich will die Wahrheit. Und die Wahrheit der Frauen, das ist nicht die Frau-Minister, die sie verkörpert, sondern das ist die noch vergewaltigte Frau ».
Einige Jahre später schrieb sie mit ihrem Lebensgefährte Adam Thalamy einen zweistimmigen Text: Seine Sicht, ihre Sicht, ein Dialog aus vielen Monologen, es ist eine Reise in die Tiefe einer Beziehung zwischen Mann und Frau. Die Beiden haben auch dieses Buch in der Literatursendung Apostrophes vorgestellt. Ein aufregendes Format, denke ich. Man glaubt viel zu begreifen und schließlich weiß man immer sehr wenig über die Abgründe und die Höhepunkte einer Zweisamkeit. Es gibt immer ein Leben, eine Wahrheit innerhalb eines Paares, das von Außenbetrachtern schwer zu erfassen ist.
Den ganzen sonnigen Morgen, habe ich nach der ehemaligen Besitzerin dieser alten Gemäuern geforscht. Sie lebte bis 1993 in diesem Haus. Ich mache eine kurze Pause und blicke von dem Schreibtisch durch das Fenster weit in die Lichtung, Richtung Scheune, da wo die Wiese viel höher und wilder wird. Wird sich plötzlich ein Reh zeigen? Ich bin gerührt mich an diesem Ort zu befinden, an dem diese Frau, dieser unabhängige Geist wohnte und liebte. Sie stellte Fragen, die bis heute noch nicht ganz klar beantwortet werden können. « Sind wir (die Frauen) Pazifisten oder (…) werden wir zum Pazifismus gezwungen? ». « Lässt sich Weiblichkeit definieren? ». « Ich bleibe überzeugt von der Notwendigkeit für jede Frau, nicht selbst zu bleiben, sondern selbst zu werden », schreibt sie weiter in ihrem Essay Entre chienne et louve. Das ist ein Satz, den ich lange in meinem Kopf nachklingen lasse.
Ich möchte ihre Stimme hören. Auf den Bildern erscheint stets eine Frau mit kurzer dunkelhaariger Frisur. Ich finde ein Interview aus dem Jahr 1973, das sie anlässlich der Vorstellung eines ihrer neuen Romane, bei France culture gegeben hatte. Der Ton und der Anspruch ihrer Sprache machen sie sehr lebendig und kühn. Im Laufe des Gespräches wird sie über die Zukunft der Frau gefragt. Ruhig und klar, antwortet sie, daß die Welt den Frauen zu Füße liege, wenn sie sich von den vielen Bildern, die sie umringen bloß befreien würden. Das Interview hätte genauso im Jahr 2018 stattfinden können.
Ich werde aber traurig als ich merke, dass diese Frau, die früher eine wichtige Stimme in den Siebziger- und Achtzigerjahren war, komplett in Vergessenheit geraten ist. Als sie 2010 in La Réole, die Stadt, in der sie geboren ist, starb, berichtete keine einzige überregionale Zeitung über ihren Tod. Viele ihrer Romane sind auch inzwischen vergriffen und nur gebraucht zu finden. Wenn ich das mit dem unendlichen Kult um Simone de Beauvoir vergleiche, empfinde ich das ziemlich ungerecht. In Deutschland ist sie auch noch weniger bekannt: nur zwei ihrer Bücher sind vor langer Zeit erschienen: ihr erster Roman La sensitive auf deutsch Ein Mädchen mit Namen Odile, wurde bei dem Verlag Deutsche Buchgemeinschaft 1960 veröffentlicht und ihr zweiter Roman Le soleil dans l’oeil auf deutsch Geblendet vom Licht der Liebe, erschien 1960 bei Cotta. Sehr schade auch, dass einige ihrer Bücher im Rahmen der Frankfurter Buchmesse 2017 nicht neu verlegt oder übersetzt wurden. Ich, jedenfalls, werde sie in dieser, ihrer Lichtung weiter lesen.