#Metoo, Frankreich, Deutschland und ich

© Marc Lagneau by Flickr
© Marc Lagneau by Flickr

Es verändert sich etwas Grundsätzliches in Frankreich. Kein Tag vergeht ohne dass die Metoo-Diskussion eine neue Wendung nimmt. Keine Woche, ohne dass eine Branche oder eine Institution mit Vorwürfen zu sexuellen Übergriffen konfrontiert wird. Viele bekannte männliche Persönlichkeiten geraten ins Visier der Justiz. Zuletzt der Islamwissenschaftler Tariq Ramadan, der wegen Vergewaltigungsvorwürfe angeklagt und verhaftet worden ist. Und gleich zwei Minister der Regierung. Gérald Darmanin, Staatssekretär für den Haushalt und Ökostar und Umweltminister Nicolas Hulot, wurden ebenfalls mit Vergewaltigungsvorwürfen konfrontiert. Gleichzeitig haben Männer das Wort ergriffen um ihre Solidarität gegenüber der #Metoobewegung auszudrücken. Der Philosoph Raphael Glucksmann verfasste das Wetoomanifest, indem Männer ihre Unterstützung in dem Kampf gegen Ungleichheiten bekunden.

 

Kollektive Introspektion

 

Die Metoo-Welle, die im Zuge des Weinsteinskandals ab letzten Oktober über Frankreich rollte, wird das Land, die Gesellschaft und die Beziehungen zwischen Frauen und Männern nachhaltig transformieren. Inwiefern bleibt noch unklar, denn die Kritik gegenüber dieser Bewegung ist auch sehr stark, wie der Brief der 100 Französinnen rund um Catherine Deneuve, zeigt. Ist also eine Revolution im Gange? Werden wieder Köpfe rollen? Oder geht es hier eher um eine kollektive Introspektion? In Familien, Redaktionen, Unternehmen, Gewerkschaften, Universitäten wird diskutiert, wie andere Beziehungen zwischen Frauen und Männern aussehen sollen. Und ich frage mich, ob es in Frankreich ein ganz spezifisches Verhältnis zwischen den Geschlechtern gibt, das man wie ein Kulturgut schützen sollte.

 

"Französischer Feminismus"

 

Frauen und Feministen sind sich in dieser Frage uneinig. Die einen, darunter die Philosophin Elisabeth Badinter oder die Historikerin Mona Ozouf, sind der Meinung, dass trotz der Emanzipationsbewegung, Frauen und Männern das Glück haben einen zivilisierten Umgang, ein Erbe aus der königlichen Hofkultur, weiter pflegen zu können, während in angelsächsischen Ländern einen Grabenkrieg zwischen den Geschlechtern stattfände. Aus Reiseberichten aus dem XVII und XVIII Jahrhundert konnte man in der Tat lesen, dass Frauen und Männern im Gegensatz zum Rest Europas eine gleichberechtigte Konversation in den mondänen Salons führen konnten. Für andere Denkerinnen wie Michelle Perrot und Sylvie Chaperon wiederum, stellen diese angeblichen Tugenden des "französischen Feminismus" einen reinen nationalen Mythos dar. Denn erstens, gab es seit dem XIX Jahrhundert verschiedene feministische Bewegungen, und zweitens führte dieser zivilisierte Umgang der Geschlechter, der als "Verführungskultur" oft glorifiziert wurde, zu einer Schwäche des Feminismus und erklärt unter anderem, warum die Französinnen so spät das Wahlrecht, nämlich erst 1944, erhielten, fast Dreijahrzehnte später als die Deutschen und die Engländerinnen (1918). Nach den Worten der Historikerin Michelle Perrot, diente diese Hoftradition nur, um "die Ungleichheit unter den Blumen zu verstecken". Dieser angeblich friedliche Umgang zwischen Frauen und Männern versteckte eine Grauzone, die viel zu lange eine Duldung von sexuellen Übergriffen ermöglichte. Das erklärt auch sicher die aktuelle Resonanz der Metoo-Bewegung in Frankreich.

 

Gleichberechtigung als große Priorität

 

Die Diskussion wird keineswegs nur in Feuilletons und in sozialen Netzwerken geführt, sondern war gleich am Anfang hochpolitisch. Letzten November hat Präsident Macron die Gleichberechtigung als große Priorität der Legislatur erklärt und eine Reihe von Maßnahmen verkündet, unter anderem eine Verschärfung des Strafrechts mit der Schaffung eines neuen Straftatbestands für sexistische Beleidigung im öffentlichen Raum und die Einführung eines Schutzalters. In Frankreich kann eine sexuelle Handlung zwischen Minderjährigen unter 15 Jahren und einem Erwachsenen als einwilligungsfähig betrachtet werden, wenn weder keine Gewalt noch Drohung angewendet wurde. Somit wird es nicht automatisch als Vergewaltigung eingestuft, sondern kann einfach als sexuelles Delikt eingestuft werden. Das Schutzalter liegt in Deutschland bei 14 Jahren. 

In Deutschland hingegen hört man zu Metoo kein Wort von hochrangigen Politikern und schon gar nicht von der Bundeskanzlerin. Bedeutet das, dass es in diesem Land alles wunderbar läuft in Sachen Gleichberechtigung? Wohl kaum, aber die Tatsache, dass die Toleranzschwelle gegenüber Machogehabe viel niedriger liegt und dass es keinen nationalen Verführung-Mythos gibt, hat offensichtlich die Brisanz dieses Themas abgeschwächt.

 

Unannehmlichkeiten des Alltages

 

Die Grundsteine dieser Umwälzung wurden eigentlich mit der DSK-Affäre gelegt. Der damals aussichtsreiche sozialistische Kandidat für die Präsidentenwahl 2012, Chef des mächtigen IWF, Dominique Strauss-Kahn stürzte plötzlich im Mai 2011 als ihm ein Zimmermädchen des Hotels Sofitel, Nafissatou Diallo, einen Vergewaltigungsversuch vorwarf. Es löste ein Erdbeben in Frankreich aus und nur wenige Franzosen konnten seine Schuld glauben trotz der vielen Gerüchten um den Ex-Finanzminister. Der ehemalige Kulturminister Jack Lang relativisierte die Vorwürfe mit "Daran stirbt man ja nicht" (Il n'y a pas mort d'homme). Erst die Vorwürfe einer Publizistin und die Enthüllungen über einen Prostitutionsring, die sogenannte "Carltonaffäre", in der er schließlich freigesprochen wurde, öffneten viele Augen, auch meine und ich fing an, mich an vielen Situationen der Vergangenheit zu erinnern: wenn der Chef einen grob anmacht, ein Interviewpartner sie versucht am Ende des Gespräches zu küssen, ein Unbekannter sie am Po in der Metro anfasst oder wenn ein ehemaliger Präsident ihnen den Kragen wieder zu Recht rückt anstatt ihre Frage zu beantworten. Das hatte ich in die Kategorie "Unannehmlichkeiten des Alltages" geräumt, als ob es sich um einen starken Regen oder schlechte Laune handeln würde.

 

Schattenseite der "Flirtkultur"

 

Ich fing an sowie andere Franzosen über diese Grauzone der Verführungskultur nachzudenken, vor allem weil ich in Deutschland ganz andere Erfahrungen im Umgang mit Männern gesammelt hatte. Seit Ende 2003 lebe ich in Berlin und habe dort ein anderes Lebensgefühl entdeckt: nämlich mich nicht mehr ständig als Freiwild im öffentlichen Raum zu fühlen und nur auf mein Geschlecht reduziert zu werden. Ich brauchte lang um diese Vorteile zu schätzen, so sehr hatte ich die Schattenseite der "Flirtkultur" als normalen Kollateralschaden integriert. Ich wurde an diese "alltäglichen Unannehmlichkeiten " erinnert als viele Frauen in Köln und anderen Städten Deutschlands Januar 2016 sich über sexuelle Belästigung und Übergriffe in der Silvesternacht beschwerten. In Frankreich wurde es oft als ein Kollateralschaden der Flüchtlingspolitik der Kanzlerin kommentiert. Nur einige französische Feministinnen warnten vor einer rassistischen Sichtweise der Ereignisse. In der gleichen Zeit nahmen die Themen der sexuellen Belästigung und des Sexismus zunehmend an Gewicht in der französischen Debatte zu, sei es weil Politikerinnen in einem Buch über ihre Erfahrungen erzählten, oder weil politische Journalistinnen sich in einem öffentlichen Brief beschwerten oder die Regierung eine Kampagne gegen sexuelle Belästigungen in den öffentlichen Verkehrsmitteln startete. Das Thema brodelte und kochte bis zum Vulkanausbruch letzten Oktober im Zuge des Weinstein-Skandals.

 

Opferstempel

 

Obwohl mir das Thema nicht neu war, war ich überrascht, ja geschockt zu lesen, dass so viele Frauen Ähnliches erlebt hatten. Überrascht dass selbst jüngere Frauen wie meine 25 jährige Kusine in Paris ähnliche Belästigungen wie ich in ihren Alter erlebt hatte. "Ändert sich denn nichts?" fragte ich mich. Ich konnte mich aber nicht dazu bewegen Metoo auf mein Facebookprofil zu schreiben. Ich dachte, ich würde mir selber einen Opferstempel setzen obwohl mir nichts Schlimmes passiert war. Gleichzeitig war ich von diesem Phänomen fasziniert. Ich spürte wie ich mit einem anderen Gefühl gegenüber Männern auf die Straße ging, wie ich mich mächtig fühlte, als ob ich plötzlich meine Beine und Armen frei ausbreiten konnte und sie mal ausnahmsweise aufpassten mussten. Allein für dieses Gefühl, bin ich der Metoo-Bewegung dankbar.

 

Anprangern auf die Sexualität

 

Aber gleichzeitig störte mich etwas. Ich hatte den Eindruck mich entscheiden zu müssen, zwischen Frauen, die allgemein und überall ein strukturelles Phänomen der sexualisierten Gewalt sahen und Frauen, die diese Bewegung wie ein UFO betrachteten. Ich verspürte wie dieses Anprangern sich auf die Sexualität und Fantasie fokussierte. Erotik ist kein Raum der gemäßigten Emotionen und Handlungen. Wenn ein Mensch sich einem anderen Menschen annähert, sei es ein Mann und eine Frau oder zwei Personen des selben Geschlechts, sind Missverständnisse und Verletzungen schwer zu verhindern, weil die Vorstellungen und Ideale sei es im Umgang mit dem Körper, der Moral völlig auseinandergehen können. Daher ist dieser Brief der 100 Französinnen, trotz seiner teilweise sehr tollpatschigen und schwierigen Formulierungen ein Beitrag zu der Diskussion und hat übrigens die ganze Debatte nochmals befeuert. Seitdem hört man auch vermehrt differenzierte Stimmen, auch in Deutschland. Denn die #Metoobewegung sollte nicht perse auf die Männer, sondern auf ein Machtsystem zielen, von dem vor allem Männer profitieren. Um das zu überwinden, ist der Dialog und das Zuhören zwischen den Geschlechtern unentbehrlich. Es heißt nicht, dass nur Konsens herrschen soll. Streiten sollen wir auch. Aber man sollte einen zivilisierten Umgang anstreben. Nicht nur im Sinne von Respekt, sondern auch im Sinne der Erotik. Wenn ich mich auf jemanden einlasse, achte ich auf ihn, auf seine Besonderheit, auf seine Reize und Bedürfnisse. Eine genderneutrale Kleidung wie eine Autorin es vorschlug oder die Digitalisierung der Kommunikation durch Klicken von bestimmten sexuellen Vorlieben werden den Machtmissbrauch nicht aus der Welt schaffen, sondern ihn einfach nur verdecken und dafür den Umgang zwischen Menschen fantasielos und nüchtern gestalten.